Der Bus hält unten an der Straße. Ich könnte auch in den Ortskern fahren, aber dann ist der Fußweg noch weiter. Sascha macht das immer so, weil der Weg von der Straße den Hügel rauf so gruselig ist. Ich habe damit kein Problem. Wiesen, ein paar Bäume, die fast das Wort Wald nicht verdienen, dann ist man schon im Wohngebiet.
Die Halloweenparty war wie immer. Ein Haufen alte Freunde und Bekannte, die man eigentlich nur noch ein oder zweimal im Jahr sieht. Bier und selbstgemischte Cocktails, Buffet à la Jederbringtwasmit und Musik von vor zehn Jahren. Die Gespräche drehen sich jetzt um den Job, Sport und bei manchen sogar um die Kinder, und manchmal dieses kurze Innehalten: Sind wir jetzt so richtig erwachsen? Beunruhigtes Lachen und Themenwechsel. Wie jedes Jahr überlege ich, ob ich nächstes Jahr überhaupt hingehen soll.
Ich stecke mir die Kopfhörer rein, während ich den Feldweg Richtung Waldrand hinaufgehe. Hinter trägen Wolkenfetzen sieht man hier und da die Sterne, die in ihrer ewigen Gleichmut auf die Erde hinunterschauen. Obstbäume stehen als düstere Wächter zu beiden Seiten des Wegs. Der Vollmond ist ein dumpfes Leuchten, verborgen von einer dichten Wolkenbank. Ich wünsche mir, dass er herauskommt und die Welt mit seinem Licht verzaubert.
Ich tippe auf das Smartphone und wähle All Soul’s Night der guten alten Loreena aus. Das ist perfekt für diesen Abend. In zehn Minuten bin ich daheim. Es ist wirklich nicht weit.
Der Waldrand steht als schwarze Mauer über den Wiesen, hier und da ragen die ältesten Bäume wie Türme in den Himmel. Nebel steigt vom Bach im Tal herauf. Es ist kalt und riecht nach Herbst: Die umgegrabene Erde auf den Feldern, vermodernde Blätter, Feuchtigkeit.
Es ist still im Wald. Nur der Wind wispert in den lichter werdenden Baumkronen und meine Schritte knirschen auf dem Kiesweg. Es ist stockdunkel und ich überlege schon, die Handytaschenlampe anzumachen, als die Wolke endlich vorbeigezogen ist und der Wald in helles Mondlicht getaucht wird. Ich sehe den Kiesweg jetzt klar vor mir liegen, er schlängelt sich zwischen den Grabhügeln hindurch, die vor zweieinhalb Jahrtausenden hier angelegt worden sind.
Sie kommen mir höher vor als sonst, Steinstelen stehen auf ihren Kuppen und die Bäume sind fort. Um mich herum liegt der Hügelrücken im Mondschein. Auf den Hügeln tanzen sie, einsame Gestalten, mit funkelndem Schmuck und bunten Gewändern, getränkt in Licht.
Ich bleibe stehen und nehme einen Kopfhörer heraus. Ihr Gesang ist nur ein Flüstern und Wispern wie Wind in den Herbstzweigen.
Da vorn sehe ich schon die ersten Häuser. Solange sie da oben bleiben, kann es mir ja egal sein. Ich gehe weiter.
Wie oft habe ich mich gefragt, wie ich in so einer Situation reagieren würde, wenn wir mal wieder irgendeinen schlechten Horrorfilm angeschaut haben. Da hältst du dich doch erstmal selbst für verrückt, habe ich immer gedacht. Aber jeder meiner Sinne sagt mir, dass das hier echt ist.
Und warum auch nicht? Es ist Samhain. Die Nacht, in der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten besonders durchlässig ist. Sollen sie doch tanzen auf ihren Gräbern. Wahrscheinlich haben sie sonst nicht mehr viel Spaß.
Am Waldrand erscheinen die Bäume wieder. Plötzlich sind sie da, wie eine Mauer aus Schatten stehen sie hinter mir. Vor mir ist der Sportplatz und davor die ersten Straßenlaternen. Seltsame Sache. In der Zivilisation angekommen schaue ich noch einmal über die Schulter zum Wald.
Da ist jemand.
Erst glaube ich, dass es nur ein nächtlicher Jogger ist, der da mit schnellen, federnden Schritten den Weg entlangkommt. Dann sehe ich das Mondlicht auf dem Goldschmuck funkeln. Ich nehme die Kopfhörer ab.
Als mein Verfolger das Licht der Straßenlaternen erreicht, verfliegt der Zauber. Ein dreckbeschmierter Totenschädel grinst mich an, vermoderte Stoffreste wackeln im Takt seines Trabs, die Fußknochen klackern auf dem Asphalt wie Hundekrallen.
Ich renne los.
Das Klackern hinter mir wird schneller.
Ich habe fast das erste Haus erreicht, als sich eine kalte Knochenhand um meinen Unterarm schließt und mich zurückreißt. Ich stürze und lande hart auf dem Asphalt, dabei kreische ich, dass ich mich selbst dafür schäme.
Der Widergänger ist direkt über mir. Er beugt sich über mich und greift – in meine Jackentasche, aus der er das Smartphone fischt. Die Kopfhörer klickern an ihren Kabeln. Er greift sie mit spitzen Knochenfingern und hängt sie sich seitlich in die Schädelöffnungen, die einmal die Ohren gewesen sein müssen. Dann geht er wieder und summt leise wispernd All Soul’s Night mit.
»Ist okay«, sage ich heiser und reibe mir die Knie, die ich mir beim Sturz aufgeschlagen habe. »Ist okay, ich wollte eh ein neues.«
Zum Glück habe ich mir noch immer keine Airpods geholt. Dann hätte er mir mit seinen Knochenfingern in den Ohren herumgestochert.
Ich komme ungeschickt auf die Füße und schaue ihm nach, bis er im Schatten des Walds verschwindet. Außerhalb des Laternenscheins ist er wieder ganz menschlich, mit geflochtenem Haar und einem langen Gewand.
Ausgeraubt von einem keltischen Adligen, das glaubt mir keiner, denke ich, während ich nach Hause hinke.