Tan’Yia schlug die Augen auf.
Ihre Ohren waren wie taub, oder vielleicht war es in ihrem Traum auch nur sehr laut gewesen. Im ersten Augenblick hörte sie nichts. Ihre Zunge lag schwer und trocken in ihrem Mund und gab ihr das Gefühl, zu ersticken. Tan’Yia öffnete den Mund und sog langsam Luft in ihre schmerzenden Lungen. Ihr ganzer Brustkorb war wie aus schwerem Stein. Ihre Augen fühlten sich geschwollen an und blinzelten heftig im Licht der Sonne, das zeitlos durch die Fenster auf das Bett fiel. Ihr Blick glitt über die weiche, blaue Steppdecke und das Kopfkissen. Sie wusste, dass sie in ihrem Bett lag, dass sie zu Hause war, in der Burg von Orhuayana. Dennoch kam ihr alles fremd und ungewohnt vor. Unwirklich und bedrohlich.
Nur ganz langsam schlichen sich Erinnerungen zurück in ihren Kopf, wie Hyaenen in den Wäldern von Orr-uaena, die sich an das Lager einer Händlerkarawane anpirschten. Und mit derselben grausamen Plötzlichkeit schlugen sie zu.
Dom’Ynyk.
Wie von selbst wanderte ihre Hand Richtung Wand, doch da war nichts. Niemand lag im Bett, nur sie selbst. Verlassen und einsam.
Die Schmerzen wurden schlimmer und Tan’Yia setzte sich aufrecht hin, um besser atmen zu können. Eine Weile verharrte sie so, bis sie glaubte, aufstehen zu können.
Ihre nackten Füße tappten kraftlos über die weichen Teppiche aus Ospor-hyakan. Sie erinnerte sich, wie ein reicher Fellhändler sie ihr und Dom’Ynyk zum Geschenk gemacht hatte, nachdem sie ihm auf dem weiten Weg von Zerperk im nördlichen Trollland bis in seine Heimat in den westlichen Spitzbergen als Geleitschutz gedient hatten. Dabei war es eine friedliche Reise gewesen und die Trolle von Zerperk galten als fast so freundlich wie die des Südens. Einzig der Weg über den Zandor-Pass und durch die Wälder von Orr-uaena war unsicher. Da hatten Tan’Yia und Dom’Ynyk schon ganz andere Abenteuer erlebt.
Wie im Traum hob sie den Vorhang beiseite und verließ die Fensternische, in welcher ihr Bett stand. Ihr Zimmer in der Burg war nicht eben klein, immerhin war sie eine der erfolgreichsten Kriegerinnen im Dienste der Handelskammer von Orhuayana. Die Stadt war unter der Herrschaft der Kammer sagenhaft reich geworden. Hier kreuzten sich Süd- und Oststraße, den ganzen Sommer über verließen Händlerkarawanen Orhuayana in alle vier Himmelsrichtungen.
Tan’Yia ließ sich in einen der beiden Polstersessel fallen, die hier im Wohnbereich hinter einem niedrigen Holztisch standen. Es war nicht möglich, dass der kurze Weg vom Bett hierher sie so erschöpft hatte. Doch bisher hatte sie sich nur ein einziges Mal so müde gefühlt. Ein Rudel Hyaenen hatte sie und Dom’Ynyk bei der Jagd überrascht und sie waren einen halben Tag lang vor den grausig heulenden Biestern geflohen.
Tränen stiegen in ihre Augen und verschleierten den Blick auf das dunkle Holz des Tisches. Ein trockenes Schluchzen drang aus ihrer Kehle, ohne dass Tan’Yia etwas dagegen hätte tun können.
Dom’Ynyk.
So oft waren sie miteinander durch ganz Enhuan-yaera gereist, meist im Auftrag von Händlern oder manchmal auch direkt auf Befehl der Handelskammer. Bis nach Seluaya, wo die freundlichen Trolle lebten, hatte es sie des öfteren verschlagen, und einmal hatte ihr Weg sie sogar bis ins düstere Orhuan-churunk geführt. So oft waren sie in scheinbar ausweglose Situationen geraten, häufig hatten sie gesiegt, manchmal hatten sie aufgeben müssen. So oft hatten sie mit waghalsigen Plänen ihr Glück herausgefordert, so oft hatten sie hier an diesem Tisch ganze Abende beieinander gesessen und über die vergangenen Abenteuer gelacht.
Sie hatten gewusst, dass all ihre Freude und all ihre Träume eines Tages sehr plötzlich enden könnten. Dass es nicht bis in alle Ewigkeit so weitergehen würde.
Tan’Yia schlug die Hände vors Gesicht, zog die Beine nah an ihren Körper und weinte. Sie weinte so sehr, dass es ein Schreien wurde, bis sie nach Luft schnappen musste.
Wer hätte auch erwartet, dass es ausgerechnet so enden würde.
Irgendwann lag sie nur noch da und versuchte, ihren viel zu schnellen Atem zu beruhigen. Der Schmerz in Brust und Bauch wurde immer schlimmer. Tan’Yia wusste nicht, ob es der Verlust war oder nur die schmerzenden Muskeln nach Wochen der Weinkrämpfe.
»So geht das nicht weiter«, murmelte sie.
Was war von der starken Kriegerin geblieben, auf welche die ganze Stadt stolz gewesen war? Ein schluchzendes, ungewaschenes Etwas, dass in seinem nach Wein riechenden Wohnzimmer lag und nicht die Kraft fand, aufzustehen und den Tatsachen ins Auge zu blicken. Dom’Ynyk würde nicht zu ihr zurückkehren. Sie erinnerte sich an Lun’Ymias triumphierendes Lachen und das boshafte Glitzern in den Augen ihrer ehemaligen Freundin. Während der Ausbildung in der Burg, während ihrer noch gar nicht so lange zurückliegenden Jugend, waren sie gute Freundinnen gewesen. Doch dann hatten sie sich beide in Dom’Ynyk verliebt, der die Ausbildung zwei Jahre vor ihnen beendet hatte. Er hatte sich für Tan’Yia entschieden und sie hatten eine wunderbare Zeit miteinander verlebt.
Tan’Yias Blick fiel auf das grüne, mit Silber durchwirkte Haarband, welches sie irgendwann am vergangenen Abend – oder auch an dem davor – in einem Anfall von Wut in die Ecke geschleudert hatte. Im prächtigen Alveïr-hyuk, im größten Hafen der bekannten Welt, hatte Dom’Ynyk sie bei der Hand genommen, die aufgehende Sonne hatte das Meer in eine flammende Pracht verwandelt, er hatte ihr dieses Haarband in die Locken geflochten und sie gefragt, ob sie ihn daheim in Orhuayana heiraten wolle.
Und nun lag sie da auf diesem Sessel und blickte gedankenlos auf das Haarband, bis sie bemerkte, wie kalt es im Zimmer war.
»Nein, so geht das wirklich nicht weiter«, hauchte sie.
Tan’Yia zwang sich, aufzustehen und ins Badezimmer zu gehen. Sie war gerne auf den Straßen Enhuan-yaeras unterwegs, liebte das einfache Leben auf der Reise … doch ab und zu war es auch ganz angenehm, fließend Wasser zu haben. Orhuayana war eine der wenigen Städte mit Wasserleitungen und Kanalisation. Wenn sie nur an Orhuan-churunk zurückdachte … Tan’Yia schauderte. Diese Trollstadt war das reinste Dreckloch gewesen. Es mochte auch daran gelegen haben, dass sie die Stadt zuvor über einen Monat belagert hatten, aber dennoch …
Das war eines der unangenehmeren Abenteuer gewesen, nur Dom’Ynyks Gegenwart hatte diese Zeit in den windigen Steppen von Ost-Onphunaya für sie erträglich gemacht. Dom’Ynyks Gegenwart hatte alles versüßt, sie konnte sich gar nicht erinnern, wie sie das Leben hatte ertragen können, als sie noch kein Paar gewesen waren.
“Bei den fauligen Zähnen der alten Hyaene von Malor Serum, so geht das nicht weiter!”, fauchte sie und schlug die linke Hand gegen den Türpfosten des Bades.
Dann trat sie ein, öffnete das metallene Ventil an der Wand und ließ Wasser in eine Holzschale laufen. Das eiskalte Wasser auf der bloßen Haut tat ihr gut und obwohl es ihr wie stets nicht gelang, ihre widerspenstigen Locken glatt zu kämmen, fühlte sie sich besser und wirklicher, als sie schließlich in den Spiegel blickte.
Man sah ihr an, dass die vergangenen Wochen keine leichte Zeit für sie gewesen waren. Die sonst rundlichen Wangen wirkten eingefallen, die Lippen waren trocken und zerbissen. Ihre Augen waren glanzlos und gerötet vom Weinen, dunkle Schatten umrahmten sie.
Tan’Yia sah lange auf dieses Spiegelbild und wusste mehr und mehr, dass sie so nicht sein wollte. Ihre Hand legte sich wie von selbst an das kalte Glas, als könne sie so in eine andere, bessere Welt greifen. Von Fernweh war sie schon immer begleitet worden. Nichts anderes hatte sie Kriegerin der Handelskammer werden lassen, nichts anderes hatte sie mit Dom’Ynyk durch die halbe bekannte Welt getrieben.
Doch was sie nun verspürte, war nicht das Sehnen nach dem Unbekannten. Jetzt wünschte sie sich nichts weiter, als von vertrauten Armen umschlungen zu werden und Dom’Ynyks Stimme zu hören.
Mit einem Seufzen raffte sie sich wieder auf, spritzte sich noch einmal kaltes Wasser ins Gesicht und kleidete sich dann zum ersten Mal seit Wochen ordentlich an. Die weiche, tausendfach erprobte Lederhose und das robuste Wams schmiegten sich altbekannt an ihre Haut und gaben ihr das Gefühl, wieder sie selbst zu sein.
Dieses zerbrechliche, weinerliche Ding, das in letzter Zeit von ihr Besitz ergriffen hatte, das war sie nicht. Im Zimmer schlüpfte sie in ihre Reitstiefel und den weiten Lodenmantel. Zuletzt gürtete auch ihr altes Schwert Duanye an. Vor einigen Jahren hatte sie es einem Drachen in den nördlichen Spitzbergen gestohlen, seitdem hatte es sie auf allen Wegen begleitet. Nun ruhte ihr Blick lange auf der von vielen Reisen zerschrammten Schwertscheide, die Finger ihrer linken Hand spielten an dem Griff herum, der stets so gut in ihrer Rechten gelegen hatte. Vielleicht sollte sie es hier lassen und sich ein neues anschaffen.
Doch Tan’Yia entschied sich schließlich dagegen. Duanye gehörte zu ihr wie Kaulu, ihre Stute, oder … oder wie Dom’Ynyk …
Nein. Nicht mehr. Es war Zeit, das zu beenden.
Das Licht der Wintersonne fiel durch die trüben Bundglasfenster. Es roch nach Gelbkohl und Thymian, als ihre Schritte einsam durch die weiten Flure der Burg von Orhuayana hallten. Es war offenbar Mittagszeit und die meisten Bewohner saßen gerade zu Tisch. Jetzt, im tiefsten Winter, war die Burg immer ein Ort der Geselligkeit. Denn sobald der erste Schnee die Landstraßen unpassierbar machte, verzichteten die meisten Händler darauf, auf Reisen zu gehen, und blieben in ihren Winterquartieren – und so auch die Krieger, welche ihnen als Begleitschutz dienten.
Tan’Yias Schritte wurden zögerlicher in diesen Gängen, welche sie seit über fünfzehn Jahren ihre Heimat nannte. Eine vage Wehmut beschlich sie. Das Leben hier hätte so schön sein können. Aber nicht allein. Nicht, wenn sie bei jedem Schritt daran denken musste, wie sie hier einmal mit Dom’Ynyk gestanden hatte, oder dort einmal mit Lun’Ymia um ihn gezankt hatte.
Die Mägde in der Küche sahen verwundert drein, gehorchten aber, als Tan’Yia Vorräte von ihnen verlangte. Ein Brot, eine Schnur Hartwürste, ein paar Äpfel.
Tan’Yia hielt nicht inne, um eine Erklärung abzugeben. Sollten sie tuscheln. Ihre Füße fanden den Weg die breiten Treppenfluchten hinab zum Ausgang in den Burghof wie von selbst. Sie durchschritt das Portal, ohne nur einmal zurückzublicken, und stand endlich im Freien.
Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln und die eisige Luft brannte in ihren Lungen. Das Sonnenlicht auf dem Schnee blendete ihre empfindlichen Augen. Sie dachte kurz darüber nach, ein wenig hier stehen zu bleiben, um sich an das Licht und die Kälte zu gewöhnen. Aber was, wenn jetzt jemand vorbeikam und sie ansprach? Sie wollte nicht reden, wusste gar nicht, ob es ihr überhaupt gelingen würde, einen Satz zu beenden, ohne erneut in Tränen auszubrechen. Nein, so wie Orhuayana nur noch ein Ort der Seelenqual für sie sein war, so waren seine Bewohner nur noch Schatten aus einem beendeten Leben, das sie am liebsten vergessen hätte.
Also ging sie weiter und durch den Torbogen, welcher ihr in der Vergangenheit immer Schutz und Trost versprochen hatte. Wie sehr wünschte sie sich doch in diese Vergangenheit zurück! Die Torwachen blickten ihr aus ihrem spärlich von einer Fackel beheizten Unterstand nach, doch sie sprachen Tan’Yia nicht an. Es waren zwei Jungen, wie sie aus dem Augenwinkel bemerkte. Das reichte als Torwache, denn noch nie war jemand auf den Gedanken gekommen, die Burg der Handelskammer von Orhuayana anzugreifen.
In den Stallungen fand sie Kaulu, ihre Stute, und wies das Stallmädchen an, sie für eine Reise bereit zu machen. Tan’Yia war selbst erschrocken, wie rau ihre Stimme war. Das Mädchen beeilte sich bei seiner Arbeit, aber Tan’Yia entgingen die misstrauischen Blicke nicht, mit denen sie bedacht wurde.
Endlich war alles bereit und sie stieg in den Sattel. Das vertraute Gefühl der Stute unter sich gab ihr Halt. Sie tätschelte Kaulus Hals, als sie von der Burg hinunter in die Stadt ritt und murmelte eine Entschuldigung dafür, sie aus dem warmen Stall hinaus in den Winter zu zwingen.
Tan’Yias Weg führte sie zwischen den großen Häusern der orhuayanischen Großhändler hindurch auf der Hauptstraße den Hügel hinab. Die Dächer der Fachwerkhäuser waren mit einer Schneeschicht bedeckt und über allen Fenstern konnte man die Tannenzweige sehen, welche die Menschen von Enhuanyaera zur Wintersonnwende vor bösen Geistern beschützen sollten.
Es herrschte das übliche Treiben. Bäurinnen in Wollmänteln begleiteten von Eseln gezogene Karren hinaus aus der Stadt, die am Morgen sicher voller Hartknollen oder Kohlköpfe gewesen waren. Grau gekleidete Dienstboten eilten eifrig durch die Straßen, an einer Ecke sah Tan’Yia Kinder in einem Schneehaufen spielen. Etwas weiter den Hügel hinab hörte sie die Klänge einer Laute und den Gesang eines Mannes. Er sang von den süßen Qualen der Liebe und sie kam zu dem Schluss, dass er keine Ahnung hatte. Die Straßen waren von fleißigen Händen geräumt worden, so musste sie wenigstens nicht fürchten, auf dem rutschigen Schnee auszugleiten und zu fallen. Wie von selbst wanderte ihr Blick über die Malereien über den Türen, die das Handwerk des Bewohners verrieten. Die bunten Plätzchen auf dem Haus des Bäckers an der Ecke zur Iuanastraße hatte sie schon als kleines Kind geliebt.
»Tan’Yia!«
Tan’Yia ritt weiter, als habe sie nichts gehört. Die Stimme ihrer Großmutter holte sie zurück in die Gegenwart. In der sie wahrhaftig nicht sein wollte.
»Tan’Yia, weglaufen bringt doch nichts! Bleib da! Sieh mich an! Sprich mit mir!«
Sie ließ Kaulu antraben und bog schließlich zwischen zwei Häusern hindurch auf einen Seitenweg, der fast zu Eng für das Pferd war. Gemurmelte Flüche von Fußgängern folgten ihr Tan’Yia hoffte sehr, dass ihre alte Großmutter ihr nicht nachlaufen würde. Sie wollte nicht reden, mit niemandem.
Die Häuser waren nicht mehr so groß, etwas heruntergekommen bisweilen, und flogen wie Schatten aus einem Alptraum an ihr vorbei. Strohgedeckte Dächer und der Geruch nach brennendem Holz begleitete ihre Flucht weiter und weiter den Hügel hinab, bis sie schließlich das Stadttor durchquerte.
Der Weg lag kalt und grau vor ihr. Er war gesäumt von ungepflegt wirkenden Ualmen, kleinen Nadelbäumen, deren Spitzen sich unter der Schneelast traurig neigten. Tan’Yia war eine Weile nicht hier gewesen. Sie erinnerte sich kaum daran, wie es das letzte Mal gewesen war. Unwirklich, das traf es wohl am besten. Erst jetzt, Wochen später, hatte sie wahrhaftig begriffen, was geschehen war – und was sie jetzt tun musste. Es war ihr unmöglich, Dom’Ynyk zu vergessen und zu ihrem Alltag zurückzukehren. Sie dachte an seine Stimme und daran, wie seine Brust vibrierte, wenn er sprach. An die braunen Locken, die fast so widerspenstig waren wie die ihren.
Vielleicht, wenn diese Hyaene sie im Frühherbst nicht gebissen hätte … für zwei Monate war sie nur schlecht zu Fuß gewesen, hatte sich nur selten aus der Burg gewagt. Vielleicht wäre ja alles anders gekommen, wenn sie nur ein wenig vorsichtiger gewesen wäre.
Daran dachte sie, während sie zwischen den Ualmen ihrem Ziel entgegen ritt.
Ihre traumhafte Geschichte wäre weitergegangen, sie hätten im Frühjahr geheiratet, vielleicht auch einmal Kinder bekommen …
In der Ferne sah sie die alte Mauer, welche sich düster und schattenhaft aus der Ebene erhob. Ein Gefühl ungewisser Erwartung begann in ihrem Bauch zu kribbeln.
Tan’Yia erinnerte sich an diesen letzten Blick, den Dom’Ynyk ihr zugeworfen hatte. Diesen letzten Blick voller Zuneigung, doch vor allem voller Schalk und Vorfreude. Er wollte ja nicht lange wegbleiben. Nur ein paar Stunden.
Wer hätte auch gedacht, dass es so enden würde? Was wäre nur geschehen, wenn sie richtig hätte gehen können? Sie wäre mitgekommen, wäre bei ihm gewesen, hätte helfen können …
Besoffene Trolle.
Nicht einmal aus dem düsteren Orhuan-churunk, sondern aus dem zauberhaften Alveïr-hyuk, dafür aber so betrunken wie ein ospor-hyakaner Fuhrmann nach zwei Flaschen Selwek. Worüber sie eigentlich in Streit geraten waren, hatte ihr niemand sagen können. Es musste eine brutale Kneipenschlägerei gewesen sein.
Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, doch sie nahm sich zusammen. Sie saß ab, schlang die Zügel um einen niedrigen Ualmenzweig und betrat den Friedhof durch das Tor, das ein Schmied aus längst vergangener Zeit zu einem Schwarm sagenhafter Flussnixen gebogen hatte.
Bei dem Gedanken an Dom’Ynyks zerschlagenes Gesicht, die verrenkten Glieder und an all das Blut auf dem Tisch der verzweifelten Heiler wurden ihr die Knie weich und Übelkeit setzte sich in ihrem Magen fest.
Seit Wochen war sie nicht hiergewesen, doch sie fand den Weg gleich. Weit hinten unter einer kleinen Gruppe von Ualmen stand der steinerne Totenwächter, die Laterne in ewig gleicher Geste erhoben, als wolle er den Toten den Weg ins Jenseits weisen – was er der Sage nach auch tat. Es war eines der prächtigeren Grabmäler auf dem Friedhof, jedenfalls in jenem Teil, den die Krieger für sich beanspruchten. Ihre Füße waren die ersten, die hier seit einiger Zeit entlangschritten. Der Schnee war unberührt. Vor dem Totenwächter verharrte sie einen kurzen Augenblick und sah hinab auf das Grab. Dort am Sockel stand sein Name.
Dom’Ynyk Saluanyer.
Langsam ließ Tan’Yia sich auf die Knie sinken und schmiegte sich an den kalten Stein. Hier wollte sie sein, sonst nirgends. Aber hierbleiben konnte sie nicht.
»Ich muss gehen. Ich muss fort von hier. Es tut mir leid.«
Mit einem letzten Blick hinauf in das unerschütterliche Totengesicht des Wächters wandte sie sich ab. Der Blick des Todes verfolgte sie, als sie durch das Tor trat.
***
Tanja schlägt die Augen auf.
Ihr ist etwas schwindelig und die fremde Umgebung macht ihr Angst. Alles ist so weiß … Ihr Kopf lehnt in unbequemer Haltung an einer harten Wand, die Lehne eines unfreundlich geformten Stuhls drückt ihr in den Rücken. In ihren Händen liegt noch immer schwer das Buch, dass sie sich am vergangenen Tag gekauft hat …
Du solltest nicht so viel lesen, sagt sie sich, als sie sich verschwommen an ihren Traum erinnert. Doch dann fällt ihr wieder ein, warum sie sich wie besessen in das Buch gestürzt hat.
Sie richtet sich auf, als die Erinnerungen zurückkehren. Sie ist im Krankenhaus. An der Glastür den Gang hinunter blinkt zeitvergessen ein rotgrüner Weihnachtsstern. Und die Tür schräg gegenüber steht offen. Es ist sehr still.
»Ist da noch jemand …?«, fragt sie in die Leere hinein.
Irgendwo raschelt etwas, eine Tür öffnet sich und eine müde Schwester schaut heraus.
»Oh, Sie sind wach … Sie haben so friedlich geschlafen, da wollte ich sie nicht wecken«, sagt sie und kommt heraus. Ihre Schuhe quietschen auf dem grauen Linoleumboden. »Wollen Sie einen Tee? Sie sehen aus, als könnten sie etwas brauchen. Wir haben gerade nur Kamille da, aber …« Jetzt erst bemerkt die Schwester Tanjas Blick. »Keine Angst. Die Operation lief gut, ihr Freund liegt jetzt auf der Station. Wird aber ein paar Narben behalten, da können Sie sicher sein. Wenn Sie wollen, können Sie zu ihm. Nun schauen Sie nicht so, er wird es schon überleben.«